St. Croix

 

 

In Hessen wurde ein Modell entwickelt, um Kindern aus schwierigen Verhältnissen die Unterbringung in einem Heim zu ersparen, die Erziehungsstellen. Darunter versteht man Pflegestellen, die Kinder aufnehmen, mit deren Erziehung normale Pflegeeltern überfordert wären. Deshalb muss in Erziehungsstellen mindestens ein Elternteil eine pädagogische Ausbildung haben. Da der Aufwand bei der Erziehung dieser Kinder größer ist als bei den üblichen Pflegestellen, ist auch die Vergütung für diese Tätigkeit deutlich höher. Ein solches Kind aufzunehmen, war uns möglich. Eine Einnahme neben meinem Gehalt kam uns gelegen. Maren bekam eine Arbeit, ohne aus dem Haus gehen zu müssen. Also kam ein Erziehungsstellenkind in unsere Familie.

Beate war ein hübsches, neun Jahre altes Mädchen mit braunen Augen und langen braunen Haaren. Sie besuchte eine Sonderschule für Lernbehinderte. Wie wahrscheinlich alle Kinder, die aus ihrer Familie genommen und bei erst einmal für sie fremden Menschen untergebracht werden, war sie anfangs sehr zurückhaltend. Beate kam aus einer Familie mit mehreren Kindern, die zur unteren sozialen Schicht gehörte. Ihrem Vater wurde vorgeworfen, sexuelle Kontakte mit anderen Frauen neben seiner Ehefrau zu haben. Die Eltern hätten die Kinder aber trotz eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten ausreichend versorgt. Misshandelt hätten die Eltern ihre Kinder nicht, aber sie hätten sie in ihrer Entwicklung nicht ausreichend fördern können. So richtig hatte Beate nicht verstanden, warum sie aus ihrer Familie genommen worden war. Sie hatte sich dort wohl gefühlt.

Beate war ungefähr so alt wie Sandra. Ich war glücklich, Beate in meiner Familie zu haben. Ich stellte mir aber manchmal die Frage, ob Maren wirklich immer so streng mit ihr umgehen musste.

Wir kauften, da wir nun drei Kinder hatten, einen gebrauchten roten VW-Bus. Maren hatte Geld geerbt und so konnten wir uns auch einen neuen Wohnwagen in Luxusausführung leisten, der ein Kinderzimmer mit drei Betten hatte. Mit dem fuhren wir in den Sommerferien nach Südfrankreich und freuten uns auf den Urlaub am Mittelmeer. Eine kleine Felsenbucht mit einem Sandstrand am inneren Ende war unser Ziel. Wenige Schritte über dem Strand, hinter einen Parkplatz, lag der Campingplatz, auf dem wir den Wohnwagen im Schatten von Pinien aufstellten. Ich kannte die Bucht und den Campingplatz schon, weil ich dort mit einer Gruppe Jugendlicher aus dem Karlshof eine Freizeit verbracht hatte.

Meistens waren wir am Strand, wo wir den Tag verbrachten. Wir staunten über das riesige Einkaufszentrum in der nächsten großen Stadt und erkundeten die Gegend. Am Eingang des Campingplatzes gab es eine Pizzeria unter freiem Himmel. Ein gemauerter Ofen wurde am Nachmittag mit offenem Holzfeuer aufgeheizt und abends genossen auch wir die in diesem Ofen gebackenen Pizzen.

Eines Morgens gingen wir wieder alle gemeinsam zum Strand. Wir breiteten unsere Decke direkt am Wasser neben der des französischen Pärchens aus, das auch am Vortag neben uns gelegen hatte. Ich bekam beim Anblick des Wassers Lust, schnorcheln zu gehen und sprach mit Maren ab, dass ich noch einmal zum Wohnwagen ging, um Taucherbrille und Flossen zu holen. Sönke und Beate spielten im flachen Wasser, Maren und Sven blieben auf der Decke.

Als ich gerade mit meinen Tauchutensilien wieder zum Strand gehen wollte, erschien Beate völlig aufgeregt am Wohnwagen. Es sei etwas Schlimmes passiert, ich müsse sofort zum Strand kommen, am besten solle ich das Auto nehmen. Ich fuhr tatsächlich das kurze Stück über den Parkplatz mit dem Auto und lief zum Strand. An unserer Decke fand ich die beiden bekannten Franzosen und Sven. Die Frau gab mir zu verstehen, dass ich zu dem kleinen Strandabschnitt gehen solle, der hinter einem Felsen lag, der das Ende der Bucht in zwei Strände teilte. Oben auf dem Felsen war ein Gebäude. Im dem sollten eigentlich die Rettungsschwimmer über die Badenden wachen. Als ich über den Felsen kletterte, schlug gerade ein Mann mit einem Stein eine Fensterscheibe ein, um an das Telefon in dem Haus zu gelangen. Ich sah nun eine Menschenansammlung auf dem anderen Strand und lief mit schlimmen Vorahnungen dort hin. Inmitten der Menschen lag Sönke auf dem Strand. Seine Augen waren offen aber er lebte offensichtlich nicht mehr. Nun traf ich auch Maren, die wohl über den Parkplatz zu dem anderen Strand gekommen war. Irgendein Fremder beugte sich über Sönke und schloss ihm die Augen.

Endlich kam ein Krankenwagen der Feuerwehr. Die Männer legten Sönke auf eine Trage und schoben ihn in das Auto. Es war letztlich ein Lieferwagen, an dessen Innenwand die Trage in Tischhöhe abgestellt wurde. Mit den heute üblichen Rettungswagen hatte er nicht viel gemein. Ich stieg auch mit ein und wir fuhren ins Krankenhaus. Während der Fahrt bemühte sich jemand, Sönke wieder zu beleben.

Im Krankenhaus brachten Ärzte Sönke in einen Raum, in den ich nicht mit hinein durfte. Endlos lang stand ich in meiner Badehose im Flur, bis ein Arzt zu mir kam und wissen wollte, ob ich der Vater sei. Dann erklärte er mir, dass sie alles ihnen Mögliche versucht hätten, aber meinem Sohn nicht mehr hätten helfen können.

Nun war auch Maren gekommen. Die Franzosen, die wir vom Strand kannten, hatten sie, Beate und Sven mit unserem Bus ins Krankenhaus gefahren und blieben die nächste Zeit bei den Kindern. Da Maren und auch ich kein Französisch sprechen, musste eine Krankenschwester übersetzen, was mit den Ärzten und der Polizei nun alles zu verhandeln war. Schließlich wurde die deutsche Botschaft angerufen und eine sehr freundliche Dame sagte zu, alle Formalitäten mit den französischen Behörden zu erledigen. Wir erfuhren, dass wir wichtige Papiere in Deutschland beschaffen mussten und deshalb wollten wir schnell nach Hause zurück.

Ich bezahlte die Campingplatzgebühren, spannte den Wohnwagen an und wir fuhren zurück nach Deutschland. Ich konnte die Menschen, die Straßen, die Häuser klar sehen. Gleichzeitig hatte ich aber das Gefühl, mein Kopf stecke in einem dicken Paket Watte. Alles um mich herum war unwirklich gedämpft und ruhig.

Irgendwann, wir waren auf der Autobahn, sah ich durch den inneren Rückspiegel nach hinten. Beate saß auf der mittleren Sitzbank und blickte, selig in sich hinein lächelnd, vor sich hin. Es war heiß im sonnigen Südfrankreich. Trotzdem lief es mir bei diesem Anblick eiskalt über den Rücken. Sönke war gerade gestorben, aber das schien Beate überhaupt nicht zu belasten. Im Gegenteil, sie schien sich zu freuen, dass wir auf dem Heimweg waren. In der Nacht wurde ich müde und hielt auf einem Parkplatz an, um dort zu übernachten. Erst schlief ich eine halbe Stunde, dann lag ich eine Stunde wach im Bett. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Meine Gedanken kreisten um all das, was am Tag geschehen war und schließlich fuhren wir weiter. Ich befürchtete, dass ich so schlimm aussehen könnte, dass die Grenzpolizisten mich nicht weiter fahren lassen würden. Aber sie kontrollierten nur die Papiere und ich fuhr weiter bis nach Hause.

Abends setzte ich mich mit Beate ins Wohnzimmer und ließ mir von ihr erzählen, was am Strand geschehen war. Von Maren wusste ich, dass sie allein aus dem Wasser zu ihr gekommen war und zu ihr gesagt hatte: "Sönke ist nicht mehr da". Darauf hatte Maren Beate zu mir auf den Campingplatz geschickt und zusammen mit anderen Badegästen Sönke im Wasser gesucht. Nun erzählte Beate mir, eine große Welle sei plötzlich gekommen und habe Sönke und sie fortgespült. Ein Mann auf einer Luftmatratze, später erzählte sie von einem Mann in einem Schlauchboot, hätte sie gerettet, aber er hätte Sönke nicht gerettet. Sie sei sich sicher gewesen, dass Sönke gelebt habe, das wüsste sie genau, denn sie hätte ihm in die Augen gesehen. Seine Augen wären offen gewesen und die Augen eines Menschen wären zu, wenn er tot ist. Ich spürte geradezu körperlich, was Entsetzen ist und schickte Beate ins Bett.

Es gab an diesem Tag keine Wellen, die am Strand hätten gefährlich gewesen sein können. Es gab keinen Mann, der ein gerettetes Mädchen zu Maren gebracht hatte. Wie hätte Beate in Sönkes Augen sehen können, während sie gerade von einem Fremden gerettet wurde? Wenn sie Sönke, als er sich nicht mehr bewegte, in die Augen gesehen hatte, war sie bei ihm gewesen, als er bereits nicht mehr lebte. Warum rief sie da nicht um Hilfe, sondern ging zu Maren, um zu erzählen, Sönke sei nicht mehr da?

Ich ging später zu Beate ins Zimmer. Sie schlief völlig ruhig, als ob überhaupt nichts Besonderes passiert sei. Mir ging durch den Kopf, wie leicht es doch sei, einen Menschen zu töten. Hätte ich Beate ein Kissen auf das Gesicht gedrückt, es wäre ganz leicht gewesen zu warten, bis sie sich nicht mehr bewegte. Maren kam auch ins Zimmer, nahm mich wortlos bei den Schultern und brachte mich aus dem Zimmer hinaus.

Am nächsten Tag veranlasste ich, dass Beate unsere Familie verließ, sie kam vorerst in ein Kinderheim.

Die Frage nach der Schuld an Sönkes Tod beschäftigte mich von nun ab intensiv. Dabei wurde mir deutlich, dass keine Behörde diese Frage bearbeiten würde. Für die französische Polizei war die Sache als Badeunfall abgeschlossen. Deutsche Stellen würden sich nicht mit der Angelegenheit befassen, da Beate auf Grund ihres Alters schuldunfähig war. Letztlich wusste ich nur, dass Beate bei Sönke gewesen war, als er starb. Hat sie ihn, im Spiel oder absichtlich, unter Wasser gedrückt? Sie reagierte in für sie unklaren Situationen regelmäßig geradezu hysterisch. Warum hat sie aber nicht sofort, nachdem sie in Sönkes Augen gesehen hatte, laut um Hilfe gerufen? Warum ging sie zu Maren und sagte, Sönke sei verschwunden? Mir wurde klar, dass ich niemals erfahren würde, wie und warum Sönke gestorben ist. Ich würde auch niemals erfahren, wer Sönke aus dem Wasser geholt hat und wie er an einen anderen Strand gelangt war.

Mir ist bis heute auch nicht klar, warum Maren nicht mitbekommen hat, was sich an diesem Tag im Wasser ereignet hat. Schließlich haben die Kinder, zumindest sollte es so sein, zu ihren Füßen inmitten all der anderen Badegäste gespielt.