Reinhold

 

Meine ersten wirklichen Erinnerungen habe ich an den Bauernhof meines Stiefvaters. Er wurde beherrscht von einer riesigen schwarzen Truthenne. Ihr wurden die Eier von Hühnern und Enten untergelegt, die sie ausbrütete. Die Küken zog sie auf und wachte darüber, dass niemand ihrem vermeintlichen Nachwuchs zu nahe kam. Vor dieser Henne hatte ich absoluten Respekt, nachdem sie mich zum ersten Mal fauchend von ihrem Nest vertrieben hatte.

Fließendes Wasser gab es damals nicht auf dem Dorf. Wir holten unser Wasser von einer Pumpe vor dem Haus. Die Kühe wurden täglich zum Brunnen im Dorf getrieben, damit sie trinken konnten. Ich begleitete sie stolz mit meinen Kommandos "Hüh" und "Hott". Sie kannten den Weg zum Brunnen und zurück in den Stall und nahmen meine Rufe gelassen hin. Aus der Säule oben am Brunnen ragte ein Rohr, aus dem das Wasser in das obere Becken und dann von dort in das untere Becken lief. Das obere Becken war den Menschen vorbehalten, aus dem unteren trank das Vieh.

Wenn man aus dem Hoftor auf den Weg trat, kam man nach rechts zum Brunnen. Nach links führte der Weg hinab zum Fluss, der stetig an den Wiesen vorbeizog, die voller Obstbäume standen. Neben dem Haus stand eine Scheune, neben der Scheune gab es das Klo. Hinter einer Holztür befand sich die Bank, die wie die Wände aus Brettern gebaut war: in der Mitte ein kreisrundes Loch, das mit einem Holzdeckel verschlossen wurde. Die Bank war zu hoch für mich, deshalb konnte ich dieses Klo nicht ohne Hilfe benutzen. Neben dem Misthaufen in der Mitte des Hofs war die Jauchegrube. Sie war mit Steinen eingefasst, aber ein Stein fehlte in der Umrandung. Dort hatte ich mein eigenes Klo.

An meinen Stiefvater erinnere ich mich kaum. Er stand einmal neben mir, wir pinkelten beide. Reinhold wirkte auf mich sehr groß und sein Glied erschien mir riesig.

Bei der Heuernte hatten wir Kinder die wichtige Aufgabe, das Heu auf dem Wagen festzustampfen. Das warfen die Erwachsenen mit Heugabeln auf den Wagen, während dieser von zwei Kühen über die Wiese gezogen wurde. Mit jeder Gabel Heu kamen wir der Sonne ein Stück näher. Auf dem Heimweg saßen wir stolz und fröhlich hoch oben auf dem Heu und genossen den Sommer.

 

Muttsch

 

Meine Mutter, die ich später immer "Muttsch" nannte, erzählte gerne, woher sie und ihre Familie stammten:

In der Nähe von Gnesen, im heutigen Polen, gab es einst ein Herrenhaus, das früher unserer Familie gehört hatte. Zu den Ländereien gehörten drei umliegende Höfe, von denen aus die Felder bewirtschaftet wurden. Die Familie führte einen wohlklingenden Namen: Vor dem heute verbliebenen Rest Ulbrich stand ein "von" und dahinter ein "swalde". Wir hießen also "von Ulbrichswalde". Dumm war nur, dass ein versoffener Vorfahre das Gut ziemlich herunter gewirtschaftet hatte. Dessen Sohn verkaufte deshalb den Titel und den Namensanhang und baute mit dem Erlös die Ländereien wieder auf. Ich fand die Vorstellung lustig, dass sich z.B. ein neureicher Herr "Schneider" nun stolz "von Schneiderswalde" nennen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Familie aber ihr Eigentum an die Sieger des Krieges. Der Vater meiner Mutter war somit Gutsherr und außerdem Jurist. Er war im Ersten Weltkrieg gefallen, seine Frau kurz nach dem Krieg verstorben. Deshalb wuchs Muttsch bei einem Onkel und einer Tante auf, die eine Bäckerei besaßen. Ihre drei älteren Brüder fielen im Zweiten Weltkrieg.

Andere Quellen behaupten, meine Mutter sei in Süßenborn, einem Dorf bei Weimar, von einem kinderlosen Ehepaar als Pflegetochter aufgezogen worden. Es waren "Kleinbauern, die Kühe anspannten". Woher und wie sie dort hin kam, ist diesen Quellen nicht bekannt. Ich erhielt nach dem Tod meiner Mutter Fotos, die Muttsch beim Erntedankfest hoch oben auf dem prächtig geschmückten und von Pferden gezogenen Erntewagen zeigten. Sie durfte die riesige Erntekrone halten.

Ab 1940 arbeitete sie im Fernmeldedienst bei der Post in Weimar. Damals wurden Telefongespräche noch von freundlichen Damen handvermittelt. Meine Mutter saß vor einem Schrank mit Kabeln, Steckern und Lämpchen mit Mikrophon und Kopfhörern und verband Menschen, die miteinander telefonieren wollten, indem sie die zugehörigen Stecker per Hand einstöpselte.

Gegen Ende des Krieges floh meine Mutter vor den anrückenden russischen Soldaten nach Westen. Auf dieser Flucht kam ich im Sudetenland zur Welt. Es ging weiter nach Thüringen bis eines Tages die Flucht unfreiwillig endete. Russen und Amerikaner hatten Westberlin und Thüringen untereinander getauscht, Flüchtlinge durften nicht mehr weiter über die nun entstandene Grenze zwischen den Besatzungszonen hinaus. Meine Mutter kam mit mir bei Hildburghausen unter, wenige Kilometer von der späteren Zonengrenze entfernt. Dort lernte sie wohl auch ihren späteren Ehemann Reinhold kennen.

Sie suchte nach Heinrich, mit dem zusammen sie vor der Flucht ein Paar gewesen war. Der hatte früher im Emsland gelebt. Auf der Zugfahrt dort hin lernte sie einen Fabrikanten aus Wuppertal kennen. Muttsch fand Heinrich, allerdings war der hinter Gittern und konnte nichts für sie tun. Er hatte sich beim Schwarzhandel erwischen lassen. Außerdem hatte er eine Familie, die er wohl nicht für sie verlassen würde. Sie hatte sich daraufhin wohl Hoffnungen gemacht, dass der Fabrikant ihrem weiteren Leben eine Wendung geben würde. Jedenfalls arbeitete sie 1947 sieben Monate lang in dessen Fabrik. In dieser Zeit lebte ich in einem Kinderheim, in dem die Kinder von Schwestern in Tracht betreut wurden. Fotos zeigen mich im Kreis mit anderen gleichaltrigen Kindern, betreut von den Schwestern. Die Hoffnung meiner Mutter auf eine bessere Zukunft erfüllte sich nicht und sie ging nach Thüringen, um im Dezember 1947 Reinhold zu heiraten.

Ihre erste Tracht Prügel von ihm bekam meine Mutter in der Hochzeitsnacht. Reinhold war nach der Feier bei Nachbarn und dort wurde wohl noch weiter getrunken. Als die Nachbarn bezweifelten, dass meine Mutter ihm immer treu sein würde, ging er nach Hause und forderte die eheliche Treue auf seine Art ein.

Im November 1948 kam meine Schwester Ingrid zur Welt. Ingrid war mein Ein und Alles. Immer wenn die Erwachsenen ihrer Arbeit nachgingen, spielte ich mit ihr. Als ein Ausflug mit ihr im Kinderwagen bis ins nächste Dorf führte hatte ich Glück, dass uns Nachbarn dort fanden, bevor wir zuhause vermisst worden wären. Als Reinhold mit einem Beil auf mich losging, warum weiß ich nicht, floh meine Mutter mit mir aus dem Dorf. Ingrid ließ sie bei ihrem Vater zurück. Meine Schwester war zwei und ein halbes Jahr alt, als sie starb. Ich erfuhr, dass sie einen Herzschlag erlitten hatte. Ein einziges Bild von ihr ist mir geblieben. Es zeigt ein wohlgenährtes Mädchen im Sonntagskleidchen, das etwas mürrisch in die Kamera schaut.

Zum Trost schenkte mir meine Mutter eine Puppe, eine Negerpuppe, die den Namen meiner Schwester Ingrid bekam. Nur: Ein Junge spielt nicht mit Puppen und so hatte ich Ingrid immer in einem Schuhkarton versteckt, wenn ich mit ihr spazieren ging, um mich nicht dem Spott der anderen Kinder auszusetzen. Diese Puppe war viele Jahre lang mein wichtigster Besitz. Als ich um die sechzehn Jahre alt war, ging sie schließlich bei einem der vielen Umzüge meiner Mutter verloren.

 

Meine Mutter floh mit mir 1949 und kam ins Erzgebirge. Dort wollte sie bei der russischen AG Wismut Geld verdienen, die Uran abbaute. Schachterinnen durften im Tagebau mit Schaufel und Spaten arbeiten, aber dies blieb ihr dann doch erspart. Der Arzt, der die neuen Arbeitskräfte auf ihre Tauglichkeit untersuchte, brauchte eine Sprechstundenhilfe. Meine Mutter hatte während des Krieges als Helferin beim Roten Kreuz gearbeitet und kam nun bei diesem Arzt unter. Sie wurde Schwesternhelferin, arbeitete später in Ambulatorien in Mildenau und Cunersdorf und kam schließlich nach Annaberg, wo sie eine Ausbildung zur Krankenschwester machte.

In Mildenau lebte ich mit meiner Mutter bei einem Ehepaar mit einer Tochter, Karin. Wir hatten ein Schlafzimmer im Dachgeschoss, im Übrigen teilten wir das Häuschen und unser Leben mit dieser Familie. Dieses Leben war einfach, aber es ging uns gut. In dem Kachelofen in der guten Stube brannte nur an Feiertagen Feuer. Sonst war der Herd in der Küche die einzige Feuerstelle im Haus.

Im Winter kamen abends Backsteine in die Bratröhre des Küchenherdes, um die Betten in den unbeheizten Schlafzimmern anzuwärmen. Sie wurden in Handtücher gewickelt und unter die Bettdecke gelegt. Wenn ich dann ins Bett ging, schob ich meinen Stein ans Fußende und so hatte ich auch in den kältesten Frostnächten ein kuschelig warmes Bett. Im Garten der Familie lebte eine Ziege. Deren Milch wurde getrunken, und aus dem abgeschöpften Rahm machten wir unsere Butter selbst, da es im Haus ein eigenes Butterfass gab. Dessen Kurbel musste lange und kräftig gedreht werden und so wechselten wir uns ab und auch ich durfte mit buttern. Jeden Samstag wurde gebadet. Eine Zinkbadewanne wurde in der Küche vor den Herd gestellt. Auf Leinen wurden Decken aufgehängt, um nun den Blick in das improvisierte Badezimmer zu verhindern. Auf dem Herd standen große Töpfe, in denen das Badewasser erhitzt wurde. Zuerst badete der Familienvater, dann Karins Mutter. Danach meine Mutter und schließlich, wenn auch Karin gebadet war, kam ich ins Wasser. Zwischendurch wurde heißes Wasser nachgegossen, aber wir alle fünf badeten selbstverständlich im gleichen Wasser. Nach dem Baden wurden Karin und ich unter dicken Decken auf dem Sofa in der Küche warm gehalten, während die Erwachsenen die Badeutensilien wegräumten. Wir lagen mit den Köpfen an den gegenüberliegenden Enden. Dabei erforschten wir mit den Füßen, über was nicht gesprochen wurde. Wir wurden nicht erwischt, wussten aber genau, dass wir uns auch nicht erwischen lassen durften.

Nach meinem ersten Schultag kam ich ganz stolz nach Hause. Unsere Schulklasse war geschlossen und selbstverständlich freiwillig den Jungen Pionieren beigetreten. Ich brachte ein blaues Halstuch mit, das mich nun als Mitglied der  Jungen Pioniere auswies. Zehn Pfennige sollte ich am nächsten Tag zur Bezahlung des Tuches mit in die Schule bringen. Erst viele Jahre später erzählte mir Muttsch, wie entsetzt sie gewesen war. Sie hatte das vor Jahren selbst erlebt, da hatte das Halstuch aber eine ganz andere Farbe. Nun galt das, was früher gesagt worden war, nicht mehr. Die Ideologie des Dritten Reiches war durch die Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates abgelöst worden. Sie wusste genau, dass sie mir nicht erzählen durfte, was sie darüber dachte. Hätte ich in der Schule geplappert, wäre das für uns sehr gefährlich geworden. Also machte sie gute Miene zu diesem Spiel und gab mir am nächsten Tag die zehn Pfennige mit.

Mildenau liegt im Erzgebirge und war im Winter vom Schnee dick zugedeckt. Ich denke heute noch gerne an den Winter zurück, an dem der Schnee mindestens einen Meter hoch lag und wir Schlitten fuhren und Höhlen in den Schnee gruben. In der DDR gab es Heime, in dem meine Mutter mich später, als wir in Cunersdorf oder auch in Annaberg lebten, während der Woche unterbringen konnte. Wie an das Heim in Wuppertal kann ich mich heute an das erste davon nicht mehr erinnern. Es gibt aber Fotos von mir in einem Schlafraum mit vielen Gitterbetten. Diese Fotos hatte meine Mutter gemacht, wenn sie mich abholte. In einem anderen Heim lebte ich, als ich schon zur Schule ging. Es gibt zwei Situationen in diesem Heim, an die ich mich noch erinnern kann. Sechs oder acht Kinder schliefen im meinem Schlafraum. Wenn wir wach im Bett lagen, durften wir nicht miteinander sprechen. Ich zog dann oft meine Decke über den Kopf und träumte von Heldentaten, die ich beging. Ich fuhr mit einem ganz winzigen Panzer, mit angewinkelten Beinen passte ich gerade eben hinein, nach Westen, um für den Sieg des Arbeiter- und Bauernstaates zu kämpfen. Der Panzer war so groß wie die Bettdecke, unter der ich mich eingekuschelt hatte, und damit so klein, dass er vom kapitalistischen Feind nicht getroffen werden konnte. Ich war unter meiner Bettdecke unbesiegbar.

Was meine Mutter eines Tages erlebte, war allerdings kein Traum: An dem Tag, an dem sie mich nach dem Essen abholte, gab es im Heim als Mittagessen Vanillesuppe und Spekulatius. Erst fand sie mich nicht und suchte schließlich auch im Speisesaal. Dort saß ich als einziges Kind an meinem Platz und löffelte Suppe. Um mich herum die Teller der anderen Kinder, die ihre Suppe nicht aufgegessen hatten und ein Stapel Spekulatius. Ich hatte alle Reste, die ich fand, zu meinem Platz geholt und völlig vergessen, dass ich an diesem Tag nach Hause kommen durfte. Erst als ich wirklich nichts mehr essen konnte, gingen wir. Auch heute noch esse ich Milchsuppen für mein Leben gern.

Welche Farbe haben Bananen? Gelb, und wenn sie noch nicht reif sind, grün? Das habe ich bis zu meinem neunten Lebensjahr nicht gewusst. Ich glaubte, sie sind schwarz, und das hatte den folgenden Grund: In der DDR gab es keine Bananen, jedenfalls nicht für die normalen Bürger. Neben dem Krankenhaus, in dem meine Mutter arbeitete, war ein russisches Offizierskasino. Eines Tages ging das Gerücht durch das Krankenhaus, die Russen hätten Bananen. Aber wie sollten die Leute aus dem Krankenhaus an diese unerreichbaren Früchte kommen? Ein Arzt hatte die richtige Idee: Die russischen Soldaten durften ihre Familien nicht mit nach Deutschland nehmen. Auch die Offiziere nicht, die unter der Trennung von Frauen und Kindern oft jahrelang litten. Und gerade die russischen Offiziere galten als besonders kinderlieb. Da gab es nur eine Möglichkeit. Der Sohn von Schwester Gertrud musste versuchen, an die Bananen zu kommen. Im Krankenhaus wurde gesammelt und ich ging mit dem Geld in das Kasino. Der Plan ging auf: Einer der Offiziere gab mir für das Geld eine große Tüte voll Bananen, die ersten, die ich in meinem Leben sah. Ärzte und Schwestern teilten die Bananen auf und auch meine Mutter und ich bekamen je eine davon ab. Diese Bananen waren, wie ich heute weiß, nicht mehr unbedingt frisch und deshalb schwarz. Das war aber nicht wichtig. Hauptsache war, dass wir überhaupt an diese exotischen Früchte gekommen waren und sie genießen durften. An diesem Tag hatte ich das Gefühl, der wichtigste Mensch im ganzen Krankenhaus zu sein.  

 

Walter

 

Heute, sechzig Jahre später, ist es alltäglich, wenn eine nicht verheiratete Mutter ein Kind hat. Es gibt ein dichtes soziales Netz, das Mutter und Kind ein nicht immer üppiges, aber doch sicheres Einkommen garantiert. Das war damals anders, unverheiratete Mütter und ihre Kinder waren in der Gesellschaft nicht akzeptiert. Das galt allerdings nicht für Witwen, besonders wenn deren Männer im Krieg gefallen waren. Deshalb erzählte Muttsch allen Leuten, ihr Mann sei im Krieg gefallen. Als Kriegerwitwe mit Kind war sie geachtet, anders als Mutter mit einem unehelichen Kind.

Vorerst hieß mein Vater Walter Ulbrich und trug somit den gleichen Nachnamen wie meine Mutter und ich. Er war ein Flugzeugingenieur und Pilot. Im Krieg flog er Flugzeuge der Luftwaffe über der Ostfront. Von einem dieser Einsätze kam er nicht zurück, weil er abgeschossen worden war. Seine Eltern lebten in Deutsch-Südwestafrika. Dort besaß seine Familie in Lüderitz ein Hotel am Hafen, in Keetmanshoop eine Farm. Diese Farm muss sehr groß gewesen sein. Walter hatte es meiner Mutter so beschrieben: Wenn man an einem Punkt der Grenze auf einem Pferd losritt und immer auf der Grenze entlang, brauchte man eine Woche, bis man zum Ausgangspunkt zurück kam. Ich hatte keinen Grund, zu bezweifeln, dass die Farm so groß war. Als wir noch in der DDR lebten, kamen regelmäßig Pakete aus Südwestafrika. In denen waren vor allem Lebensmittel. Reis und Zucker, aber auch Kaffee und Schokolade. Zu Ostern und Weihnachten waren in Stanniol verpackte Osterhasen und Weihnachtsmänner in den Paketen. Sie waren regelmäßig zerbrochen worden, da jedes Paket, das damals aus dem Ausland in die DDR kam, geöffnet und genauestens kontrolliert wurde. Auch in die einzelnen Packungen wurde hinein gesehen und selbst in die Weihnachtsmänner. So kam es öfter vor, dass meine Mutter mit einem Sieb wieder Zucker und Reis trennte oder dass die Schokoladenfiguren keine Köpfe mehr hatten.

Ich erfuhr schließlich, dass Walter aus der Gefangenschaft entlassen worden war. Er wollte, dass meine Mutter und ich auch nach Afrika kommen und der Antrag auf Ausreise wurde von den Behörden genehmigt. Meine Mutter verkaufte alles, was wir nicht mitnehmen konnten. Es war aber verboten, größere Mengen Bargeld mit über die Grenze zu nehmen. Bei der Zugfahrt über die Grenze setze meine Mutter mich in eine Ecke am Fenster. Meine Puppe Ingrid saß hinter mir und war durch einen aufgehängten Mantel verdeckt. Natürlich fand der Grenzpolizist trotzdem die Puppe, nahm sie an sich und fragte, wem sie gehöre. Dass es meine Puppe sei, wollte er nicht glauben, denn Jungen spielen ja nicht mit Puppen. Deshalb wollte er sie wohl nicht mehr herausgeben. Ich fing an zu weinen. Das beeindruckte ihn letztlich doch und ich bekam meine Ingrid zurück. Jahre später erzählte mir meine Mutter, dass meine Tränen wohl unsere Rettung gewesen waren: Im Bauch der Puppe hatte meine Mutter das Geld versteckt, das sie über die Grenze brachte. Hätte der Grenzer das Geld gefunden, wäre damit unsere Fahrt zu Ende gewesen.

Später erfuhr ich, dass Walter kurz vor unserer Ausreise in Afrika gestorben war. Meine Mutter hatte aber gültige Ausreisepapiere und wir fuhren damit nach Berlin. Dort meldete sie uns als Flüchtlinge und so kamen wir in die Bundesrepublik.

Die Zeugnisausgabe zum Ende der fünften Klasse war ärgerlich. Ich bekam damals ein neues Zeugnisheft und darin stand als Name meines Vaters nicht Walter Ulbrich, sondern Hermann Ulbrich, Flugzeugingenieur. Den Vornamen verbesserte mein Klassenlehrer auf meinen Protest hin sofort.

Ich hatte bereits gezweifelt, ob Walter wirklich mein Vater und beide verheiratet gewesen waren, weil der Geburtsname meiner Mutter der gleiche wie ihr Ehename war. Nach der Scheidung von Reinhold hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Dass mein Vater nicht im Krieg gefallen war, wusste ich inzwischen auch.

Zur Konfirmation wollte der Pfarrer meine Taufurkunde sehen, aber meine Mutter hatte keine. Sie versicherte, dass ich getauft worden war und bemühte sich, eine Urkunde zu bekommen. Das war gar nicht so einfach, weil die Stadt, in der ich geboren wurde, nicht mehr zu Deutschland gehörte. Direkte Kontakte zwischen den Ländern gab es während des kalten Krieges nicht. Auf Umwegen über die DDR kam letztlich doch eine Urkunde in einer fremden Sprache bei uns an. Der Pfarrer konnte nicht lesen, was in ihr bescheinigt war und glaubte, dass es ein Taufschein sein könnte. Ich durfte konfirmiert werden.

Tatsächlich war es aber eine Geburtsurkunde, in der, wie in meiner deutschen Geburtsurkunde auch, kein Vater angegeben war. War es tatsächlich wieder nur vergessen worden, ihn einzutragen, oder gab es für sein Fehlen einen anderen Grund? Die Zweifel in mir waren stärker geworden und damit auch der Wunsch, Klarheit darüber zu bekommen, wer mein Vater ist.

Auf einer Wanderung durch die Wälder des Odenwaldes von der Breuburg nach Otzberg erzählte mir meine Mutter schließlich, dass es zwei Männer gab, die sie geliebt hatte. Einer war Walter Ziesing, von dem ich schon viel erfahren hatte und dessen Eltern in Afrika lebten.

Mein Vater aber war ein anderer, Heinrich Schelm. Er war von Beruf Fotograf.

Walter Ulbrich hatte es nie gegeben. Den Namen hatte Muttsch sich ausgedacht, um mich als Kind der Eheleute Ulbrich ausgeben zu können.

Anfang 2010 veröffentlichte die Allgemeine Zeitung in Namibia, dem früheren Deutsch-Südwestafrika, einen Beitrag auf die Entstehung dieses Buches. Ein Neffe von Walter Ziesing, der diesen gelesen hatte, meldete sich bei mir. Er bestätigte, dass auf zwei Fotos aus dem Nachlass meiner Mutter sowohl Walter als auch dessen Eltern sowie weitere Verwandte zu sehen sind.

Walter ist demnach kein Pilot gewesen, sondern kam mit einer Panzereinheit in russische Kriegsgefangenschaft. Er fiel laut Auskunft des Suchdienstes des DRK im Kessel von Stalingrad oder starb in Gefangenschaft später in Sibirien.

Welche Beziehung zwischen Walter und meiner Mutter bestanden hatte und weshalb seine Eltern meiner Mutter und mir Pakete in die DDR geschickt hatten, kann er mir nicht erzählen.

 

 

Heinrich

 

Als ich neunzehn Jahre alt war, wollte ich meinen Vater endlich kennen lernen. Nach jahrelanger Ungewissheit hatte ich erfahren, wo er wohnt und wie er tatsächlich heißt. Ich wollte wissen, wer er ist, wie er lebt und wie es ihm geht. Ich wollte spüren, wie es ist, seinem Vater gegenüber zu stehen, ihn zu erleben. Laut meiner Geburtsurkunde hatte ich ja eine Mutter, aber keinen Vater. In dem Vordruck war nicht einmal eine Stelle vorgesehen, wo man ihn hätte eingetragen können. Ich hatte bis dahin keinen Vater gehabt und wollte wie alle anderen einen Vater im richtigen Leben haben.

Ich fuhr nach Lingen, wo er wohnen sollte. Im Rathaus sagte man mir aber, dass er nicht hier, sondern in Münster wohne. Ich fuhr weiter zu der neuen Adresse und fand tatsächlich ein Klingelschild mit seinem Namen. Mir öffnete eine Frau. Sie sagte, ihr Mann sei nicht zu Hause, komme aber bald wieder. Ich antwortete, ich würde mich dann später noch einmal melden.

Das Auto, in das ich mich setzte, war mein erstes. Ein Lloyd 400, den ich für 150,- DM gekauft hatte. Fast jeden Tag gab es etwas zu reparieren, aber ich war stolz darauf, ein Auto zu haben. 1964 war das für einen Lehrling durchaus nicht selbstverständlich. Aber meine Mutter, die keinen Führerschein besaß, war genau so stolz darauf, dass wir an den Wochenenden zusammen unsere Ausflüge machen konnten. Auf der Fahrt zu meinem Vater löste sich in der Nacht auf der Autobahn die Verriegelung der Motorhaube und diese krachte gegen das Dach. Der Fahrer des Lkw, den ich gerade überholte, bremste und ich hatte genug Platz, um auf dem Seitenstreifen auszurollen. Nun war an der Stelle, wo sie auf dem Dach aufgeschlagen war, ein Knick in der Motorhaube. Aber irgendwie ließ sie sich wieder schließen und befestigen. Nun wartete ich in meinem ersten Auto auf meinen Vater.

Kurze Zeit später kam die Frau aus dem Haus und zu meinem Auto. "Wie heißen Sie?" fragte sie mich. Ich sagte es ihr und sie antwortete: "Komm mit nach oben. Ich weiß, wer du bist."

Es gab etwas zu trinken, dann holte sie Fotoalben hervor. Ich sah die vielen Fotos der Familie. Nun verstand ich, wieso sie mich erkannt hatte: Viele Fotos ihres Sohnes hätten auch Fotos von mir sein können. Ich erfuhr, dass sie von Anfang an von meiner Existenz gewusst hatte. Die Briefe, die meine Mutter an meinen Vater schickte, hatte sie auch gelesen. "Dein Osterei wächst, blüht und gedeiht" hatte meine Mutter geschrieben. Die Frau erzählte von ihrer Familie und davon, dass ihr Sohn vor einem Jahr an einem Gehirntumor gestorben war. Ihre Tochter hatte geheiratet und lebte in Amerika.

Eine Stunde später drehte sich ein Schlüssel in der Wohnungstür. Jemand kam herein und die Frau rief: "Du hast Besuch".

Mein Vater kam ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Auch ihm brauchte ich mich nicht vorzustellen. Er war Fotograf. Lange haben wir uns über seinen Beruf unterhalten.

Zwei Stunden später fuhr er vor mir her, um mich zur Autobahn zu bringen. Zum Abschied gab er mir 20 DM, von denen ich Blumen für meine Mutter kaufen sollte.

Ich bekam für das Geld einen riesigen Strauß und richtete die Grüße aus, die ich bestellen sollte. Meine Mutter hatte bis dahin nicht gewusst, dass ich vorhatte, meinen Vater zu besuchen.

Ich habe meinen Vater nie wieder gesehen. Wie sehr habe ich mir gewünscht, dass er sich bei mir meldet, dass er irgendein Interesse an mir zeigt. Der Wunsch ging nicht in Erfüllung. Ich hatte einen Vater. Für zwei Stunden. Aber die Suche nach ihm war endlich vorbei.

Aus dem Internet habe ich viele Jahre später erfahren, dass mein Vater nicht mehr lebt und der Nachlass seiner Arbeit nun im Archiv der Stadt Lingen verwahrt wird, in der er so viel fotografiert hat.